Der Marathon-Mann
Jürgen Prein beim Radklassiker Mailand SanRemo
Es riecht nach Massageöl im altehrwürdigen Radstadion von Rozzano nahe Mailand Weit über tausend spannungsgeladene Rennradfahrer Nachwuchsprofis Amateure und Hobbyfahrer fiebern an diesem schwülwarmen Morgen des 27ten Mai dem Startschuss entgegen, der sie endlich auf den Weg durch die Poebene schickt. Gut vorbereitet bin ich wie jedes Jahr hier in die Lombardische Metropole angereist. Über fünftausend Trainings- und Touristikkilometer, sowie achtundzwanzigtausend Höhenmeter haben meine Beine seit Januar strampeln müssen, um vielleicht den Profis ein winziges Stückchen näher zukommen. Endlich, dichtgedrängt wird das Ausfahrttor passiert gleich hinter dem Parkplatz heißt es nur noch reintreten was die Muskulatur hergibt, die Geschwindigkeit halten und den Kampf um die Plätze über 290 Km aufnehmen. Mit über 40 Km/h jagen wir hinter der Polizeieskorte her, die gnadenlos jeglichen Gegenverkehr von der Straße weist. Keine Ampel, kein Hindernis wird den menschlichen D-Zug auf ihren blitzenden Rädern, der in gesamter Straßenbreite die ersten einhundertzwanzig Kilometer durch die Ebene jagt, aufhalten können. Es wird Stürze und Defekte gehen, aber niemand wird halten darf stoppen, um die anderen nicht auch noch zu gefährden. Anders als in den Jahren vorher, bleibt das Feld dicht zusammen. Die Spitze kommt nicht weg. Von hinten drängen die Kontrahenten, machen die Straße noch enger. Ich kann nur wenige Namen der Ortschaften aufzählen, die ich hier schon öfters durchfahren habe, zu stark ist die Konzentration, zu stark muss ich aufpassen, um nicht selbst über eine verlorengegangene Trinkflasche oder ein Hindernis zu stürzen. Im Pulk entsteht erstmals ein Ziehharmonikaeffekt, der dann an einer engen Durchfahrt, an einer Kurve einen nichtgewollten Stillstand nach sich zieht. Es kostet Kraft mit teilweise über 50 Km/h, die entstandenen Löcher wieder zuzufahren.
Die ersten 120 Km bis Ovada bleibt das zusammengedrängte Peloton beieinander. Hier erfolgt der erste kleine Anstieg. Die Durchschnittgeschwindigkeit liegt um 3 km/h niedriger als letztes Jahr, wo ich in der zweiten Gruppe mitfuhr; bei 37 Km/h. Da gleich passiert es, was macht mein Vordermann, warum geht er aus dem Sattel, lässt einen Tritt aus und lässt sich zurückfällen? Nun wird er einen Schwenk machen, ich habe keinen Platz, links neben mir das Feld rechts bedrohlich nahe der Bürgersteig mit seinem hohen Bordstein. Er touchiert mein Vorderrad, der vorausgesehene Sturz mit dem neuen Rad erfolgt. Ich schlage mit der rechten Hüfte auf, merke wie mein Kopf schwerer wird und spüre dass der Aufprall der von meinem Helm abgefangen wird. Das Feld prescht vorbei, hundert, vielleicht dreihundert Räder mögen es sein die unaufhaltsam ihren Weg nach vorn suchen. Mit zornigen Gedanken springe ich auf rufe voller Wut blödes A..... Gott sei Dank am Rad ist nicht viel zu sehen. Aus meinem Ellenbogen und Daumen tropft seicht Blut auf den Asphalt, ich verschmiere meine Hose, die Hüfte wird am Abend eine dicke aufgescheuerte Schwellung zieren und der Cratoni-Helm hat wieder einmal seine Schuldigkeit getan. Eine Delle, ein Längs- und ein Querbruch lassen ihn zum Ende des Rennens zum Anschauungsstück werden. Jetzt bloß schnell aufs Rad wie viel Zeit mag bloß vergangen sein? Ist egal, bloß hinterher, keinen Zentimeter preisgeben.
Es folgt der über zwanzig Kilometer lange Anstieg zum Bric Berton. Das Feld ist mittlerweile weit auseinandergerissen und die Begleitfahrzeuge, die vorher niemals eine Chance bekamen an uns vorbei zu kommen, lassen ihre Abgase in die Lungen der Aktiven strömen. Vereinzelte Fahrer kämpfen wie ich bergan, manche schieben an dem 15% gen Teilstück, fluchen, sitzen in Schweiß gebadet am Straßengraben. Trotzdem, irgendwie hat mich der Sturz beflügelt, ignoriere das ausgeschiedene Salz das in meinen Augen brennt, reiße wie selten am Lenker, fahre im unruhigen Stil eines Pantani, um so schnell wie möglich auf 773 Meter zu gelangen, überhole Ingomar, Norbert und Bernd die sonst viel schneller sind als ich. Verpflegung nach 145 Km. Weniger als dreißig Seelen stehen in emsiger Hektik hier oben und schütten Flüssigkeit literweise in sich hinein. Es folgt eine neun Km Abfahrt die einen Blick auf das grandiose Hinterland zulässt. Ganz langsam beruhige ich mich wieder und erfreue mich an dem Fotographen der gleich in der nächsten Kehre die Harmonie zwischen Landschaft und mir verewigen wird. Nach der weniger strapaziösen Auffahrt zum Col dei Giovo erfolgt der Rücksturz zur Erde. Manchmal zeigt der Tacho Tempo siebzig, mein neues Rad gleitet mit seiner steifen Geometrie wie auf Schienen, in den Kurven lassen die Bremsen ihre Griffigkeit spielen und die Felgen laufen heiß. Gut, dass ich auf dem folgenden fast geraden Stück in einer Dreiergruppe hänge. Der Wind bläst von vorn und lässt die Geschwindigkeit sinken. In Savonna erreichen wir die von ihrer Topographie nicht zu unterschätzenden Küstenstraße auf der reger Sonntagsverkehr herrscht. Von nun an heißt es wieder mehr aufpassen, Gegenverkehr und zum Strand kreuzende Ausflügler zwingen zur Obacht, obwohl wir wissen, hier in Italien begegnen die Menschen uns anders als in den heimischen Gefilden. Wir halten das Tempo hoch und erreichen die zweite Verpflegung nach einhundertneunzig Kilometern in Spotorno. Drei Einzelkämpfer füllen gerade ihre Depots wieder auf . Wo sind die anderen bloß geblieben? Sogleich ziehen wir zu sechst wieder an, um nach wenigen Kilometern Anschluss an eine zehnköpfigen italienischen Gruppe zu bekommen, die aber keine Lust verspürt Führungsarbeit zu leisten. Ich lasse mich hängen, schreie die südländischen Kollegen an, die auch erstaunlicher Weise sogleich reagieren, um das Tempo auf teilweise fünfzig zu steigern. Verbissen bleibe ich an der sich ausdünnenden Truppe dran und komme mit vorne am Capo Mele und Capo Servo an. Hier bin ich früher meistens zurückgefallen, aber heute, da fühlt sich mein Körper wohl. Am C. Servo werden noch einmal die beiden Trinkflaschen gefüllt. Für die letzten fünfzig Kilometer müssen sie reichen. Der Capo Berta mit seinen 11% und drei Kilometern Länge warten. Einigermaßen gut komme ich dort hoch, bin aber plötzlich ganz alleine bis Jochen aus Duisburg mit seiner unbändigen Kraft zu mir aufgeschlossen hat. Er hat noch jemanden im Schlepptau, dessen Gesicht und Namen ich vergessen habe, obwohl er mit unserer Gruppe angereist ist. Ohne Gnade zieht Jochen los. Ich werfe meine vierte Magnesiumtablette ein, verkonsumiere meinen elften Energieriegel und nehme einen großzügigen Schluck aus meiner Trinkflasche. Aber es nützt nichts, der rechte Oberschenkel macht zu. Ich spüre einen aufkommenden Schmerz. Allein fahre ich die Cipressa hinauf, kämpfe mit einem ebenso geschafften Solisten und fühle dem großen Cippollini der letzten Jahre nach, der genau hier dem hohen Tempo Tribut zollen musste.
Die Sonne brennt hoch auf siebenunddreißig Grad, was für mich heißt, ich muss mit meiner Flüssigkeit haushalten, obwohl ich sie dringend bräuchte. Den Poggio schaffe ich weder in dem Tempo der Profis, noch auf dem großen Blatt. Mein Tacho zeigt maximal 23 Km/h, eher weniger. San Remo ist erreicht, die letzte Kreuzung überquere ich wie üblich bei diesem Rennen während der Rotphase. Haltende Autos geben einen aufmunternden Ton mit ihrer Hupe zu mir hinüber. Vor mir fährt niemand und hinter mir sehe ich ebenfalls keinen Radler. Trotzdem fahre ich was der Körper noch hergibt, denke an Werner, an Hans. Wo werden sie wohl abgeblieben sein? Meine Gedanken schwenken zu Erik Zabel, der mir von seinen Strapazen im letzten Jahr erzählte. Endlich am Ziel, wo auch mir die zahlreich wartenden Zuschauer winken, meine Leistung beklatschen. In meiner persönlichen Freude, der Lohn für meinen eigenen Erfolg, der die Zerrungen im Oberschenkel und die vom Sturz bis jetzt ignorierten Schmerzen ein wenig gelinder erscheinen lässt, registriere ich die nette Geste der Anwesenden noch gar nicht richtig. Besser als in den letzten Jahren steige ich vom Rad in der noch wenig gefüllten Blumenhalle, obwohl ich weiß, die Muskelfaserrisse im Oberschenkel werden einen Start beim folgenden Super-Cup zu Pfingsten leider nicht erlauben. Meine Ahnung wird sich bestätigen, aber zu Trondheim-Oslo, der fünfhundertvierzig Kilometeretappe, da muss ich wieder fit sein. Und eines weiß ich ganz genau, nächstes Jahr starte ich wieder in Mailand, und vielleicht gelingt mir auf der ursprünglichen Strecke, die einfacher zu fahren ist und nur tausendfünfhundert Höhenmeter misst, eine noch bessere Platzierung. Ich erreichte laut Urkunde einen 282 ten Platz in einer Fahrzeit von 9 Std. 33 Min. In meiner Seniorenklasse wurde ich auf Position 27 geführt. Meine Durchschnittsgeschwindigkeit betrug 30,4 Km/h, also eine respektable Zweidrittelleistung gegenüber den Profis. Sie erfüllt mich mit Stolz und Freude, und selbst, wenn ich irgendwann in ferner Zukunft zig Stunden später hier auf der Via Roma ankommen werde, werde ich dieses einzigartige Gefühl des persönlichen Sieges genauso auskosten, wie es jeder einzelne Fahrer vor und hinter mir ebenfalls durchlebt hat.
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