Trondheim - Oslo, die Krone der Radmarathons
Bereits seit 15 Jahren spukt der Wunsch nach einer Teilnahme am härtesten Radmarathon Europas, der großen Kraftprobe (norwegisch "Styrkeprøven") Trondheim - Oslo, immer mal wieder durch meinen Kopf. Doch die lange Distanz von 540 km und der damit verbundene Trainingsaufwand sowie das meist nasse und kühle norwegische Sommerwetter haben diese Gedanken meist schnell verdrängt. In Anbetracht meines fortschreitenden Alters und der sich in immer rascherer Folge einstellenden "Zipperlein" fasste ich jedoch vor ca. einem halben Jahr den Entschluss: 2011 oder nie!
Um den Entschluss zu untermauern, meldete ich mich auch im Dezember letzten Jahres sogleich für die Veranstaltung an. Aufgrund des für einen Einzelfahrer doch beträchtlichen Organisationsaufwands vertraute ich mich dem erfahrenen Karlsruher Radreiseveranstalter velotravel (www.velotravel.de) an. Da das Winter- und Frühjahrtraining ausgesprochen gut verlief und ich in der Zeit von Januar bis Mitte Juni ca. 8000 km ins Trainingsbuch schreiben konnte, stand ich am Donnerstag, den 23. Juni, gegen 11:00 Uhr recht zuversichtlich und erwartungsvoll in Kiel am Fährterminal. Hier traf ich die 6 Mitradler meiner Reisegruppe. 7 weitere sollten dann in Trondheim per Flugzeug zu uns stoßen. Die Überfahrt nach Oslo war recht angenehm und bot richtige "Kreuzfahrtatmosphäre". Als wir am nächsten Morgen in Oslo einliefen, war es allerdings mit der guten Atmosphäre erst einmal vorbei, denn wir wurden von einem kühlen Dauerregen empfangen. Den Freitag verbrachten wir dann mit einer Streckenbesichtigung bei einer achtstündigen Busfahrt von Oslo nach Trondheim. Der Regen verzog sich zum Glück nach ca. 50 km und so konnten wir die markanten Punkte der Strecke ungetrübt in Augenschein nehmen. Wie üblich schaut so eine Radstrecke vom Auto gleich noch beschwerlicher und länger aus. Deshalb stieg der Respekt vor der bevorstehenden Aufgabe bei allen Teilnehmern nochmals an. Nach der Ankunft in Trondheim holten wir uns gleich die Startunterlagen, checkten im ca. 300 Meter vom Start entfernten Hotel "Brittania" ein, machten die Räder klar - die durften sogar mit aufs Hotelzimmer - und begaben uns in eine Pizzeria zur "Henkersmahlzeit".
Am nächsten Morgen war unsere Startzeit für 07:52 Uhr (Gruppenstart à 50 Teilnehmer alle 4 Minuten) vorgegeben. Das bedeutete Aufstehen vor 06:00 Uhr und Radlerfrühstück mit Müsli und Haferbrei, genannt Porridge, da erst ab 07:00 Uhr "was Handfestes" zu haben war. Das Wetter war kalt und trüb, also waren erstmal Winterklamotten angesagt, insbesondere da es ja auch ins Küstengebirge auf über 1000 hm gehen sollte. Eine gute Wahl, denn bereits 5 Minuten nach dem Start setzte der Regen ein. Dazu gab es gleich mal einen deftigen Anstieg mit 3 km Länge und ca. 150 hm raus aus der Stadt. Unsere Startgruppe war nicht gerade homogen, da alle gemeldeten deutschen Teilnehmer, die eine Zielfahrzeit von 20 bis 24 Stunden angaben, zusammengefasst wurden. Ca. 10 Fahrer knallten gleich mit hohem Tempo in den Anstieg hinein. Was also tun? Mitbolzen und hinterher eingehen oder rausnehmen? Scheinbar doch mit Rennfahrergenen ausgestattet entschied ich entgegen der Vernunft für die erste Variante. Oben am Berg und in den dann folgenden ersten Hundert Kilometern wurde das Tempo dann doch etwas erträglicher. Der Regen hörte bald auf und wir kamen gut voran, so dass wir zwei vor uns gestartete Gruppen überholen konnten.
Nach ca. 110 km in Oppdal stand die erste Verpflegung an und schwupps waren die beiden mühsam überholten norwegischen Startgruppen wieder an uns vorbei. Was ist denn da los? Machen die keine Pause? Genauso ist es, die verpflegen sich zum größten Teil aus dem Auto und haben dann und wann ihre eigenen, vom jeweiligen Verein betreuten Verpflegungsstationen, die sie nur ganz kurz anlaufen. So müssen wir den restlichen Teil des langen Anstiegs bis ca. 170 km und den ersten Teil der Abfahrt bis ca. 210 km in einer kleinen Gruppe bewältigen. Wir sind jetzt 4 Leute und arbeiten gut zusammen. Dies bleibt so für den ganzen Marathon. Das Wetter ist jetzt richtig gut geworden: lockere Bewölkung, ca. 15° Grad. Leider bläst der Wind von der falschen Seite, nicht wie üblich aus Nordwest, sondern von vorn aus Südost, zum Glück nur leicht. Die Landschaft auf dem Dovrefjell ist atemberaubend schön. Die schneebedeckten Berge sind zu sehen. Unten ist alles sattgrün, allerdings sind die Bäche randvoll. Hier muss es tagelang geregnet haben.
Nach 245 km in Otta steht für uns die zweite Pause an. Unser Reiseveranstalter hat auf einem Campingplatz eine kleine Hütte gemietet und empfängt uns mit einem herrlichen Nudelbuffet. Na ja, es waren nur Penne mit Tomatensauce, aber nach der langen Strecke und den vielen Riegeln kommt einem jede warme Mahlzeit wie ein Festmahl vor. Zudem gibt es Kaffe/Kuchen. Wer mich kennt, weiß, ein Muss für jede Radtour. Wichtig war es auch, die Winterkleidung endlich gegen eine normale Langarmgarnitur zu tauschen. So konnte es nach ca. einer halben Stunde frisch gestärkt wieder aufs Rad gehen. Es standen ja auch "nur mehr" 300 km bevor und die meisten der ca. 2800 hm waren auch schon gemacht - und dies mit einem Schnitt von fast 33 km/Stunde!
Wieder kurbelten wir zu viert erstmal 50 km alleine, bevor uns eine starke norwegische Vereinsmannschaft einholte. Die Jungs waren wirklich gut drauf und so fuhren wir bald zwei weitere Mannschaften auf. Es stellte sich so langsam heraus, dass die einheimischen Vereine die Fernfahrt auch renntaktisch bestens organisiert haben. Zum Teil werden sogar sogen. "Hasen" eingesetzt, die nur die ersten zwei- bis dreihundert km Tempo machen und sich dann zurück fallen lassen oder ganz aus dem Rennen gehen. An den Anstiegen wird zumeist betont langsam gefahren, so dass man fast gezwungen ist, auszuscheren und vorbei zu fahren, um den üblichen Rhythmus nicht zu verlieren. Im Flachen und in den Abfahrten knallen sie dann richtig rein und holen dich schnell wieder ein. Leider gingen nach 350 km in Lillehammer, der Olympiastadt von 1994, unsere Flaschen und Vorräte zur Neige, so dass wir die dortige Verpflegungsstelle aufsuchen mussten. Als eine weitere Gruppe vorbeizog, stürmten wir schnell aufs Rad und klemmten uns dahinter. Die Gruppe war nicht ganz so flott unterwegs und so konnten wir Körner sparen und die schöne Landschaft des Gudbrandtals genießen. Die Landschaft ist immer wieder von Seen durchzogen, das Gelände sanft wellig, die Straßen ruhig und ideal zum ungestörten Rollen.
Nach 410 km war Hamar erreicht. Jetzt wurde es kühl. Zeit für die Beinlinge und eine weitere Verpflegung. Ab hier nur mehr 130 km. Also eine "mittlere Sonntagsrunde". Das sollte doch machbar sein. Mit meiner Kondition war ich zufrieden, keine Krämpfe und immer noch ein paar Körner, um Führungsarbeit zu leisten. Das war auch nötig, denn den Rest der Strecke sollten wir wieder ohne größere Gruppe bewältigen müssen. Ich bemerkte, dass bei mir noch mehr Kraft vorhanden war als bei meinen Partnern und so blieb ich länger in der Führung. Alles bestens, so meinte ich, auch in Eidsvoll, unserer letzten Verpflegungsstation um ca. 23:30 Uhr nach 480 km. Es wurde jetzt doch langsam dunkler und die mitführungspflichtigen Fahrlichter traten in Aktion. Die Begeisterung und die Anfeuerungsrufe der Zuschauer am Streckenrand wuchsen immer mehr, wohl auch der Alkoholpegel. Da wurde richtig Mittsommer mit Grillpartys und Lagerfeuern gefeiert. Natürlich motiviert das auch den müden Radsportler. Der Adrenalinkick war ohnehin noch vorhanden und so war das Verlangen nach Schlaf kein Thema. Es lief richtig gut und wir konnten die 18 Stunden Marke anvisieren. Zwei Stunden schneller als erhofft, was wäre das für ein Erfolg!
Plötzlich jedoch bei ca. 500 km ein Schockerlebnis. Mein linkes Knie versagt total. Schmerzen wie wenn jemand ständig mit einem spitzen Gegenstand in das Knie bohrt, vor allem bei Belastung im Wiegetritt und berghoch. Ich wusste ja, dass meine Knie verschließen sind und kaum noch Knorpelmasse vorhanden ist. Aber muss sich das gerade jetzt offenbaren? Ich habe meinem Körper mit dieser großen Kraftprobe wohl doch zuviel zugemutet! Es wird immer schlimmer und ich bringe die Kurbel kaum noch rum. Gruppe um Gruppe, Fahrer um Fahrer überholen uns. Ich rate meinen Begleitern immer wieder, weiter zu fahren, um keine Zeit zu verlieren. Zwei beherzigen das, doch ein Kamerad, Wolfgang aus dem Allgäu, der schon das dritte Mal dabei ist und seine bisherige Bestzeit aufgrund der guten Umstände heuer klar unterbieten könnte, bleibt bei mir. Mir drückt es die Tränen in die Augen und ich befürchte schon, das Rennen aufgeben zu müssen. Doch ich denke an meinen beinamputierten Vereinskameraden Erich Winkler, klicke das kaputte Bein aus dem Pedal und kurble wann immer es geht einbeinig dem Ziel entgegen. Es werden die schwersten 40 Kilometer meines Radsportlerdaseins. Doch irgendwann ist Oslo erreicht und die Qual hat ein Ende. Auf der Anzeige stehen 18 Stunden 36 Minuten. Das bedeutet einen Schnitt von 29 km/Stunde. Ohne die 5 Pausen von zusammen ca. 1,25 Stunden hatte ich eine Nettofahrzeit von 17 Stunden 20 Minuten mit einem Schnitt von 32 km/Stunde auf dem Tacho. Das ist weit mehr als jemals erhofft.
Ich bin nur noch froh, dass es vorbei ist. Die eher widrigen Umstände am Ziel (überfüllte und versiffte Duschen, schlechte Schlafmöglichkeiten, miese Verpflegung usw.) stören mich nicht mehr. Komischerweise verursacht das Knie beim Sitzen, Gehen und Stehen keine Schmerzen. Nur die kurbelnde Bewegung auf dem Rad wird nicht mehr toleriert. Irgendwann haue ich mich in den Schlafsack, den ich zusammen mit Wechselkleidung in einer Sporttasche vorausgeschickt hatte. Der Schlaf auf dem harten Hallenboden ist schlecht und unruhig, aber die Nacht ist ohnehin schnell vorbei und gegen Mittag geht es in ein bequemes Mittelklassehotel in Oslo. Nach einem Nickerchen am Nachmittag gibt es Abends eine kleine "Siegesfeier" in einem tollen Restaurant am Hafen. Die Preise sind zwar der Wahnsinn, aber Trondheim - Oslo bewältigt man ja nicht alle Tage. Das Wetter ist jetzt bombastisch, ein toller, warmer Sommerabend. Am nächsten Tag steht erst eine kleine Stadtbesichtigung an, bevor es gegen 13:00 Uhr auf die Fähre nach Kiel geht. Es regnet wieder einmal in Oslo, aber der Wettergott zeigt uns damit nur, wie gut er es mit uns während des Radmarathons gemeint hat.
Alles in Allem ein wirklich lohneswertes Abenteuer, diese große Kraftprobe. Für mich leider zum ersten und letzen Mal, denn mein Körper hat mir ganz klar die Grenzen aufgezeigt. Andrew Grau mit seinem Reiseunternehmen velotravel kann ich für die Organisation der Reise nur empfehlen. Der Mann ist selbst Radsportler und weiß genau, wann und wo ein Teilnehmer welche Unterstützung braucht. Weitere Informationen gibt es auch auf der Webseite des Veranstalters unter www.styrkeproven.no.
Euer Franz-Josef Utler
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